Ich bin auf dem Weg. Auf dem Weg in ein neu belebtes Leben. In ein Leben, von dem ich noch nicht weiß, wie es wird. Und ich bin so verdammt froh, dass ich es nicht weiß. Weil es besser ist, mal spontan zu sein, in den Tag hineinzuleben, als alles krampfhaft vorauszuplanen, wie ich das früher immer gemacht habe. Weil ich nicht mehr planen muss, was ich esse, wo ich esse, mit wem ich esse bzw. ob ich überhaupt esse. Weil es egal ist, was ich schon geleistet habe oder wie weit ich gerannt bin. Weil ich mich nicht mehr in meine übersprudelnde Leere zurückziehen muss.
Ich bin jetzt frei.
Aber es war ein steiniger Weg bis hierhin. Ein Weg, von dem ich anfangs dachte, dass er niemals enden wird. Die Entscheidung, etwas zu verändern, dauerte lang. Die Entscheidung, alles aufzugeben, noch ein wenig länger. Aber jetzt frage ich mich, was ich eigentlich glaubte, aufgeben zu müssen? Meine Freunde, von denen ich ewig nichts gehört habe; mit denen ich schon seit zwei Monaten nicht mehr geredet habe und denen ich – wenn es dann mal zu einem Gespräch kam – nie so richtig folgen konnte?
Meine Familie, mit der es kein einziges entspanntes Essen mehr geben konnte; die irgendwie zu zerbröckeln drohte; von der ich mich zurückzog; mit der ich schon ewig nicht mehr gelacht habe?
Meine Schule, die ich nutzte, um etwas zu tun zu haben, was mich von mir selbst ablenkte; in der ich nur saß und nur körperlich anwesend war; für die ich zwar gebüffelt habe, aber ohne wirklich etwas dabei zu lernen?
Mein Hobby - Eiskunstlauf - das ich schon vor Monaten aufgeben musste, weil ich keine Kraft mehr dazu hatte; zu dem ich mich nicht mehr hin traute, weil ich mich schämte?
All das war für mich doch schon längst verloren gegangen. Ich hatte dies alles schon viel früher aufgegeben und gegen die Essstörung eingetauscht - an sie verloren.
Von dem, was außerhalb meines Kopfes passierte, hatte ich doch keine Ahnung mehr, und mir war das ehrlich gesagt auch völlig egal. Als ich mich dann dazu entschloss, eine Therapie zu machen und zu versuchen, all meine scheinbar so lieb gewonnenen Gewohnheiten abzulegen, hatte ich einfach nur Angst. Angst, vor dem, was kommt. Angst, vor dem, was ich zurücklassen musste; vor dem, was mir bleibt, wenn ich zurückkomme; und vor dem, was ich verpasse. Aber in einer Welt, in der ich eh nicht mehr anwesend war, was sollte ich da verpassen? Und irgendwo in mir gab es einen kleinen Schimmer Hoffnung, der mir sagte, dass es besser werden kann. Dieser kleine Schimmer hat mich ermutigt, den neuen Schritt zu wagen.
In der Zeit, die diesem Schritt folgte, gab es Momente, da hätte ich am liebsten alles liegen lassen. Aber es gab noch so viel mehr Momente. Momente, in denen ich Mut und Trost zugesprochen bekam. Momente, in denen eine Mitpatientin (mein Inneres weigert sich eigentlich, dieses Wort im Zusammenhang mit diesen unglaublichen Menschen – Freunde, die gleichzeitig auch zur Familie geworden sind – zu benutzen) an meine Tür klopfte, mich in den Arm nahm und ich einfach nur ihr Mitgefühl spürte. Momente, in denen wir mit lauter Musik und unserem Tanzen den Aufzug zum Wackeln brachten. Momente, in denen wir uns bei Zusammenkünften in der Gruppe gegenseitig Halt gaben. Momente, in denen es einfach reichte, dass wir da waren.
Und ich schaue zurück und merke, dass ich viele Dinge – meine Freunde und vieles andere – gar nicht aufgegeben habe. Ich habe uns nur Zeit gegeben, Zeit, um wieder zu heilen. Um wieder neu zu wachsen und besser zu werden. Und doch habe ich auch manche Menschen und Dinge hinter mir gelassen, weil ich merkte, dass sie mir nicht gut tun und mir nur wehtun. Ich merkte, dass ein neuer, anderer Weg für mich jetzt besser ist. Manchmal habe ich mir selbst die Frage gestellt, ob ich in der Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen habe und ob ich mit dem Weg, den ich vorher gegangen bin, noch glücklich bin. Dabei musste ich oft feststellen, dass ich die Schule oder mein altes Umfeld so gar nicht mehr wollte. Früher habe ich das gar nicht in Frage gestellt, es einfach so hingenommen. Jetzt gehe ich einen anderen Weg. Und ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich den Menschen bin, die mich hierbei unterstützt haben, aber auch mir selbst dafür, dass ich mich dazu entschieden habe.
Denn das Kämpfen hat sich gelohnt! Es hat sich so verdammt gelohnt! Schon lange habe ich mich nicht mehr so gut mit meiner Familie verstanden. Mein Bruder sagte vor Kurzem zu mir: ,,Endlich bist du wieder du." Ich habe mich mit meinen alten Freunden getroffen, die sehr froh waren, dass ich wieder ganz da bin. Ich habe gelernt, nicht so streng mit mir zu sein, mich ein bisschen mehr lieb zu haben. Mir Zeit zu geben, weil nicht alles immer rasend schnell gehen kann. Ich habe gelernt, Probleme nicht mit meinem Körper – dem Hungern und all dem Scheiß – anzugehen, sondern das eigentliche Problem zu betrachten. Dass es erst gut werden kann, wenn ich loslasse. Jetzt sitze ich im Zug auf dem Weg in ein neues Leben. In eine neue Stadt. Eine neue Schule. Anstatt mich durchs Abi zu schlagen, habe ich mich für eine Ausbildung entschieden. Ein Weg ins Unbekannte. Natürlich habe ich Angst, aber ich weiß, dass ich das schaffen kann. Mit ganz viel Mut und Lebenslust im Gepäck. Das Leben wartet auf mich, mit seinen Herausforderungen und Glücksmomenten. Diesen Weg kann sich jeder selbst aussuchen. Ich nehme den in die Freiheit. Was tust Du?
Leonie, 18 Jahre, beim Abschluss der Therapie am TCE