Mehr als 5 Monate, 23 Wochen, 159 Tage, 3.816 Stunden, 228.960 Minuten und ja fast 14 Millionen Sekunden bin ich jetzt hier im TCE. Im Frühling bin ich hier eingezogen und habe mich nach eineinhalb verschwendeten Jahren dazu entschieden, meinem Leben endlich wieder einen Sinn zu geben. Ich wollte das Leid, die Monotonie, die Perspektivlosigkeit und damit wohl die schlimmste Zeit in meinem Leben hinter mir lassen. Um ehrlich zu sein, wusste ich damals überhaupt nicht, auf was ich mich einlasse, was mir noch bevorstand und welche Höhen und Tiefen ich hier erleben würde, aber ich wusste auch nicht, dass ich jemals an dem Punkt stehen würde, an dem ich jetzt bin.
Als ich ankam, war ich leer, unsicher, hoffnungslos und hatte eigentlich meine ganze Lebensfreude verloren. Ich konnte mein Leben nicht mehr genießen, sah keinen Sinn mehr weiterzumachen, war völlig am Ende und wollte am liebsten gar nichts mehr machen. Um ehrlich zu sein, habe ich erst im Nachhinein verstanden, wie sehr ich eigentlich gelitten habe. Selbst die eindringlichen Worte meiner Familie, meiner Freunde oder auch meiner Mitspielerinnen haben mir damals nicht zu verstehen gegeben, wie krank ich eigentlich bin und dass ich eigentlich viel früher einen Punkt hätte setzen müssen. Auch Sätze wie „Du schaust aus, wie eine lebendige Leiche" oder die Angst vor dem Sterben haben mich nicht abgeschreckt.
Ja richtig, ich wollte es sehr lange nicht wahrhaben, dass ich krank bin. Ich wollte nicht zugeben, dass ich zu schwach für manche Dinge bin und vor allem wollte ich mir nicht eingestehen, dass mein Leben nun mal nicht perfekt läuft. Aus der Idee heraus ein bis zwei Kilo abzunehmen, wurde längst viel mehr. Ich habe damals fast 25 Kilo abgenommen und natürlich war ich so dann auch nicht zufriedener. Ich war im Gegenteil unzufriedener, unglücklicher und damit depressiver. Ich sah, wie das Gewicht Kilo für Kilo nach unten purzelte und hatte den Beweis dafür, dass ich leisten kann, dass ich etwas geschafft habe und vermutlich auch, dass ich etwas kann, was meine Zwillingsschwester nicht kann. Plötzlich haben andere auch gesehen, dass ich diszipliniert bin und ich habe das bekommen, wonach ich mich sehr lange Zeit gesehnt habe – Anerkennung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Die Anfangszeit im TCE war zugegebenermaßen die schwierigste Zeit für mich. Ja, ich hatte richtig zu kämpfen. Auf einmal loszulassen, zu begreifen, dass die Vergangenheit nun die Vergangenheit bleibt und ein langwieriges, hartes, aber auch wichtiges neues Kapitel, oder besser gesagt eine ganz neue Geschichte bevorsteht, das hat sich irgendwie komisch angefühlt. Ich war in mich gekehrt, eigentlich völlig abwesend und total neben der Spur. Am schwierigsten war es aber für mich zu realisieren, dass ich diesen Weg alleine, isoliert von daheim gehen werde und dass ich das Ganze hier für mich machen werde und für niemanden sonst.
Aber irgendwann hat es dann bei mir „klick" gemacht. Warum und wann, weiß ich um ehrlich zu sein auch nicht. Ja, ich habe dann endlich verstanden, dass ich nie mehr so leben möchte, wie ich es lange genug getan habe. Ich habe verstanden, dass mir noch mein ganzes Leben bevorsteht, wenn ich jetzt etwas ändere und ja, ich habe verstanden, dass ich die Essstörung nicht brauche und dass ich es im Prinzip ganz alleine in der Hand habe.
Ich bin nämlich ich. Auch wenn es sehr banal und dahergeredet klingt, war es dann doch nicht so einfach mich wieder selbst zu finden. Ich habe mich lange, zu lange selbst vergessen, habe mich mit der Essstörung identifiziert und wollte es eigentlich nur mir selbst und den anderen recht machen, ohne dabei auf mich und auf meine Bedürfnisse zu achten. Ich habe immer zurückgesteckt, habe immer den anderen den Vortritt gelassen, habe mich selbst und andere belogen und vor allem habe ich aufgehört, mich selbst zu lieben bzw. mir selbst etwas Gutes zu tun.
Ich war getrimmt, getrimmt auf meine Leistung und damit getrimmt auf einen Mechanismus. Richtig, ich habe nicht mehr gelebt. Ich habe mich eingeschränkt, mir Regeln gesetzt und dabei völlig vernachlässigt, was ich eigentlich will.
Dieser ganze Irrsinn sollte dann mit dem Entschluss, mir Hilfe zu holen endlich ein Ende nehmen. „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, es geht nicht mehr". Dieser Spruch hat auf der ersten Seite in meinem Therapietagebuch Platz gefunden und markiert damit das Ende einer schwierigen Zeit und zugleich den Anfang einer wahrscheinlich noch schwierigeren Zeit.
Nachdem ich mich dann aber Anfang Januar endgültig dazu entschieden hatte, das Ganze hinter mir zu lassen und ans TCE zu kommen, habe ich von allen Seiten Sätze gehört wie: „Danach bist du wieder die alte Jasmin", „Ich freue mich, wenn du endlich wieder normal bist" oder „Hoffentlich wird es bald wieder wie früher". Selbst dachte ich, dies könne doch gar nicht so schwer sein. Lange genug habe ich schließlich „normal" gelebt, aber das war es dann irgendwie doch.
Wie soll ich Lebensfreude gewinnen, wenn ich für nichts zu begeistern bin, wenn ich überhaupt keine Lust auf gar nichts habe und wenn ich nicht begreife, für was ich lebe? Wie soll ich spontaner werden, wenn ich nach festgesetzten Regeln lebe und wie soll ich mit mir und meiner Leistung zufrieden sein, wenn ich mich immer mit meiner Schwester vergleiche, die zugegebenermaßen natürlich die gleichen Entscheidungen zum gleichen Zeitpunkt im Leben treffen muss?
Naja, anfangs war ich noch voller Motivation und Enthusiasmus. Ich wusste ja wie gesagt noch nicht, dass das Ganze dann doch seine Zeit brauchen würde, denn ich wollte so schnell es geht wieder leisten. Auch wenn ich immer gesagt habe, „ich bleibe so lange, wie ich brauche", hatte ich mir schon im Vorhinein genau ausgemalt, wann ich hier wieder ausziehen würde: nämlich nach vier Monaten Intensivphase und der anschließend ebenfalls vier monatigen Stabilisierungsphase, die ich beide zum exakten Zeitpunkt abschließen wollte. Mich „nur" mir zu widmen und mir die Zeit zu geben, die ich brauche, kam für mich überhaupt nicht in Frage.
Im Nachhinein kann ich von mir aus aber sagen, dass es wahrscheinlich die beste Erfahrung war, dass einmal etwas nicht nach meinen Vorstellungen gelaufen ist, dass ich die Kontrolle abgeben musste und dass ich die Dinge einfach mal auf mich zukommen lassen musste, bevor ich mir wieder Gedanken über dies und jenes hätte machen können.
Mit der Zeit aber wurde alles zunehmend immer anstrengender, immer langwieriger und damit auch immer hoffnungsloser. Es hat sich gezogen, die Portionen wurden immer, immer größer, es war für mich einfach kein Ende mehr in Sicht und so wurde ich dann doch immer, immer schlechter gelaunt. Ich kam wieder in depressive Stimmung, in Gedankenstrudel und damit auch in die Selbstabwertung. Ja, denn so einfach war es dann doch nicht zu sehen, dass alle anderen Fortschritte machen, ich dagegen – laut meiner eigenen Wahrnehmung – nicht.
Es hat dann lange gedauert, bis ich irgendwann begriffen habe, dass es okay ist, dass ich länger brauche, dass es okay ist, dass andere vermeintlich weiter sind, obwohl sie nach mir gekommen sind und dass es okay ist, dass ich meinen eigenen Weg gehe und gehen werde. Ich habe die Vorteile darin gesehen, länger Zeit zu haben und hatte plötzlich wieder eine Perspektive im Leben. Nichts desto trotz kamen dann irgendwann aber doch wieder schlechtere Zeiten. Es war schwer für mich zu sehen, wie meine Schwester das Leben genießen kann, während ich im TCE vermeintlich festsaß und das ganze Leben an mir vorbeiging. Es klingt hart, aber genauso habe ich es damals gesehen.
Irgendwann kam dann aber endlich der Zeitpunkt und ich war im Selbstmanagement. Dann bin ich zum Thema „autonomes, selbständiges Leben" in Klausur gegangen und habe gemerkt, dass ich mein Leben viel zu sehr von anderen abhängig mache, obwohl ich es gar nicht nötig habe. Ja, ich hatte dann diesen „Aha-Effekt" und irgendwie hat es dann das zweite Mal so richtig „klick" gemacht. Die Woche „Therapieauszeit" hat mir hier während der fast sechs monatigen Intensivphase wohl das meiste gebracht. Ich habe begriffen, dass ich viel zu sehr auf die anderen fokussiert bin und mich und damit meine Persönlichkeit viel zu sehr einschränke. Und auch, dass ich es nicht nötig habe, mich für andere zu verstellen, mich anderen unterzuordnen, wenn ich einfach zu mir und meinen Handlungen stehe.
Ja, ich kann jetzt „nein" sagen, wenn ich etwas wirklich nicht will, ich kann mich von anderen abgrenzen, weil mir selber bewusst ist, was ich brauche und ich kann zu mir stehen, auch wenn es den anderen nicht gefällt. Klar ist das alles ziemlich theoretisch und in der Praxis wird es trotzdem auch noch seine Zeit brauchen, bis ich meine Gedanken komplett abstellen kann, aber plötzlich waren dann da auch wieder der Optimismus, die Lebensfreude und damit auch einfach die Gelassenheit da, nach denen ich mich so lange gesehnt hatte.
Aber die „alte Jasmin" war und bin ich trotzdem nicht. Nein, ich bin jetzt, wenn man es so sagen kann die „neue Jasmin". Mittlerweile kann ich sagen, dass ich hier viel erreicht habe, mittlerweile ist die Essstörung nur noch ein ganz, ganz kleiner Teil von mir und mittlerweile kann ich auch sagen, dass ich mich und mein Leben, so wie es momentan ist, akzeptieren kann. Es hat lange gedauert, aber ich glaube jetzt ist auch der richtige Zeitpunkt gekommen, an dem ich es endlich laut aussprechen kann: „Ich bin stolz auf mich."
Ich habe lange genug gekämpft, habe hier wieder Spaß am Leben gefunden, kann lachen, weil es mir gut geht, kann auch die kleinsten Dinge genießen und vor allem kann ich mich und meinen Körper so akzeptieren, wie ich bin. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass ich irgendwann mal da sitze und sagen kann, dass ich einfach zufrieden bin, so wie es momentan ist, aber das bin ich. Natürlich habe ich auch jetzt noch die Ängste, dass es irgendwann wieder schlechter wird, dass ich irgendwann wieder mit alten Problemen konfrontiert werde und dass ich irgendwann wieder in alte Muster verfalle. Aber weshalb sollte ich mich hier wieder mit dem „irgendwann" beschäftigen? Genau jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich wahrscheinlich einfach mal das Hier und Jetzt genießen sollte. Ich kann es genießen, Dinge zu machen, die ich mir ewig verboten habe. Ich kann es genießen, Dinge zu machen, die mir Spaß machen und ich kann es genießen, Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen und einfach so zu sein, wie ich wirklich bin.
Genau das ist der springende Punkt. Ich muss jetzt alle möglichen Gedanken, alles Negative, was irgendwann mal sein kann, ausblenden und mich damit voll und ganz auf die Gegenwart konzentrieren. Jetzt bin nämlich wirklich ich an der Reihe und wenn es anderen nicht gefällt, wie ich bin, wenn andere mit mir jetzt nicht mehr klar kommen und wenn andere mich runtermachen wollen, dann ist es nicht mein Problem, denn ich lebe für mich und für niemanden sonst.
Aber auch wenn ich schon viel geschafft habe, steht mir immer noch ein weiter, weiter Weg bevor, denn jetzt heißt es wieder zurück in den Alltag zu finden, mir selbst mehr zuzutrauen und mir mein eigenes Leben unabhängig von anderen aufzubauen. Jetzt kommt die Zeit, auf die ich so lange gewartet habe, jetzt kann ich endlich das tun, was ich schon immer einmal machen wollte und jetzt kann ich vor allem das tun, was mir wieder Spaß macht.
Zuletzt möchte ich mich noch bei allen bedanken, die mir auf diesem harten und langwierigen Weg geholfen haben und die dazu beigetragen haben, dass ich jetzt da bin, wo ich bin. Ich möchte mich bei ihnen dafür bedanken, dass sie für mich da waren, als es mir nicht gut ging, dass sie mir geholfen haben, als ich gedanklich schon aufgegeben hatte und dass sie mir das Gefühl gegeben haben, nicht alleine zu sein. Danke!
Außerdem möchte ich den Lesern dieses Blogs mit auf den Weg geben, dass es wichtig ist, zu kämpfen, auch wenn es manchmal hoffnungslos erscheint, dass es wichtig ist, weiterzumachen, auch wenn man daran zweifelt, dass es wirklich das Richtige ist und man am liebsten das Handtuch schmeißen würde und dass es wichtig ist, sich selbst Dinge zuzutrauen und sich dadurch selbst mehr zu vertrauen. Jeder hat es verdient, ein Leben ohne Essstörung und damit nach den eigenen Vorstellungen zu leben, also gebt niemals auf, auch wenn Ihr denkt, Ihr könnt es nicht schaffen! Ihr seid jetzt an der Reihe und nur, wenn Ihr wirklich wollt, dann könnt Ihr es schaffen, ja, Ihr habt es selber in der Hand und glaubt mir, es ist schwer, aber es lohnt sich!
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Jasmin, 19 Jahre, am Ende der Intensivphase