Der „Tag in der Krankheit", den unsere Patientinnen zu Beginn der Therapie schreiben, dient dazu, sich die Auswirkungen der Erkrankung auf das eigene Leben in allen Einzelheiten zu verdeutlichen. Eine unserer Patientinnen hat diesen „Tag in der Krankheit" in Gedichtform verfasst. Ihre kurzen, prägnanten Zeilen veranschaulichen das unerbittliche Regime der Essstörung umso eindringlicher.
Krank sein
(Erstens)
Der Sommer ist jetzt offiziell vorbei
(Zweitens)
Vielleicht faste ich nochmal
(Drittens)
Die Mama ist immer noch ein Drache
Ich breche
die Schokolade in viele kleine Teile
und esse keins davon
Schwarz
ist der Kaffee, den ich trinke, um nicht zu spüren
meinen Hunger
Kühlschrank auf
Kühlschrank zu
Geschirr spülen
Geschirr räumen
Geschirrspüler
Küche sauber
Küche leer
Kopf sauber
Kopf leer
Ich brenne
die Zigarette an und kann endlich
aufatmen
Ich koche
vor Wut
und mein Gemüse ohne Öl
Mir geht es doch gut,
wenn ich jeden Tag meine Ziele erreiche
Man lernt zu leben
Krank sein
Leben mit seiner Krankhaftigkeit
Aber was heißt das schon
Dieses Chaos, in dem ich lebe,
ist mein Halt,
meine Routine,
ist alles, was ich habe;
ist alles, was ich bin
(Erstens)
Ich weiß nicht, was ich schreiben soll
(Zweitens)
Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich fühle
(Drittens)
Ich hoffe, ich überlebe diesen Tag
Ich habe mich ehrlich selber angelogen
Ich wusste, was ich tat
Ich war ehrlich zu mir
Ich habe mich ehrlich selber angelogen
Was will ich
Ich will mich
Mit Liebe voll
Zu mir, zu dir
Zum Regen, zur Erde
Mit der eins ich werde
Ich fühl mich frei
Ich bin nicht frei
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Anonym, 17 Jahre, damals Patientin der Stabilisierungsphase