Die Münchener Kammerspiele veranstalteten vom 14. bis zum 16. Juli „Body Talk – ein Festival über Körper und Märkte, Geschlecht und Sichtbarkeit im 21. Jahrhundert“. Im Eingangstext hieß es: „Wo sind sie denn bloß, die Frauen, die Schwarzen, die Queers, die Freaks?“.
Dieser Bericht ist als Plädoyer zu verstehen: Den gesellschaftlichen Umgang mit unseren Körperformen und -normen zu hinterfragen, wach zu bleiben! Sich zu trauen, zu zeigen, abseits von Mode, Trends und Must-Haves, jeder in seiner Eigenheit!
Alle Programmpunkte, die ich besuchte, waren in ihrer Seltsamkeit und obskuren Ernsthaftigkeit ein besonderes Erlebnis. Ich würde davon gerne mehr in München sehen.
Die eine Performance heißt „Normcore“: Zwei Männer, auf dem Sofa sitzend, fechten einen Boxkampf an der Konsole aus. Dadurch, dass die beiden auf der großen Leinwand – boxend – exakt aussehen wie die zwei auf dem Sofa, verschmilzt das Dreieck Performance-Spiel-Parodie zu einem Kreis… und dem traurigen Bild eines Mannes, der ein Leben der Selbstoptimierung führt, zwischen Muskelübungen und Eiweißshakes: „zwanghaft gesund“, Leistung vor Genuss. Wir sehen aus kurzer Distanz zwei Orthorektiker. Der Betrachter ist unangenehm berührt, es wirkt makaber, doch was tun? „Ich ernähre mich gesund und achte auf meinen Körper. Was ist daran krank?“, mögen die beiden Männer erwidern.
Die andere ist ein Stand der Firma „ASMR yourself“, wo man sich eine persönliche ASMR-Session buchen kann. Schon bald werde ich von einem überaus zuvorkommenden, gepflegten Herren in Empfang genommen, und wir gehen einige Fragen durch. Es geht insbesondere um mein Stresslevel, meinen Schlaf, und wie ich mich normalerweise entspanne. Später werde ich in einen Behandlungsraum geführt, wo ich nach meinem Befinden gefragt werde und mich auf eine Liege betten und die Augen schließen soll. Die Überfreundlichkeit, das Surren der Neonröhre und das „Plopp“, als die Assistentin sich ihre Gummihandschuhe anzieht (gepaart mit der Frage: „Fühlen Sie sich wohl??“) rufen ein gewisses Gefühl des Unwohl- und Ausgeliefertseins in mir hervor. Während ich da liege, spielt die Dame mir unterschiedliche Geräusche vor und berührt mich mit verschiedenen Gegenständen an Händen und Füßen, um zu testen, wie ich auf diverse Reize reagiere. Dann werde ich abermals zurück in den Wartebereich geführt und soll sitzen bleiben, bis mein persönlicher ASMR-Artist bereit ist. Nach einigen Minuten begleitet mich dann eine andere Assistentin – mit ständigem Blickkontakt und der Frage „ob es mir auch gut geht“ – in ein anderes Gebäude. Wir fahren mit dem Lift nach oben. Gebückt gehe ich unter einer Bühne hindurch, soll meine Schuhe ausziehen und es mir bequem machen.
Es ist schwierig, komplett ernst zu bleiben, denn vor mir liegt eine wunderschöne Meerjungfrau, ein – denke ich – Mann mit langen silbernen Haaren und glitzerndem Fischschwanz. Seine langen Nägel reiben an einer Muschel, und ich werde gebeten, mir Kopfhörer aufzusetzen und die Augen zu schließen. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer noch diesen Nestor in lasziver Pose, ungefähr 30 Zentimeter von mir entfernt. Mich zu entspannen ist in dieser Situation echt schwierig – die Situation ist total absurd, freakig, irgendwie zum Lachen, doch ich mag es, Teil dieser Performance zu sein, gewissermaßen mitzuspielen – denn darum handelt es sich hier, trotz aller Professionalität! Als Nestor mit dem Flüstern beginnt, gleitet die Situation weiter in Richtung skurriles Spiel und Kunst…
Durch „ASMR yourself“ wurde mir im Selbstversuch gespiegelt, wie schnell wir uns im Relax-and-Spa-Bereich auf eine seltsame Art der Kommunikation einlassen. Wir sind überfreundlich, schleimig und angepasst und machen mit, um der Wellness willen. Der Freakfaktor sorgt für das gewisse Etwas. Was wäre, wenn die Grenzen verschmelzen könnten? Wenn wir Nestor auf der Straße treffen würden, statt uns von ihm für Geld ins Ohr flüstern ließen, nach dem Ausfüllen von Fragebögen über Schlaf- und Essverhalten?
Nebeninfo: Über ASMR gibt es bisher wenig Forschung. Es lohnt sich jedoch, den folgenden Wikipedia-Eintrag zu lesen, dann erscheint Einiges aus dem obigen Bericht bestimmt nicht mehr ganz so kryptisch: https://de.wikipedia.org/wiki/Autonomous_Sensory_Meridian_Response
Das Body Talk Festival hat dieses Jahr zum ersten Mal stattgefunden und lässt sich auf der Website der Kammerspiele noch einmal nachvollziehen: https://www.muenchner-kammerspiele.de Ich hoffe sehr, dass es eine Fortsetzung gibt.
Bildnachweis: Leopold Jonas
Helene Attenberger ist als Kunsttherapeutin tätig. Sie ist schwerpunktmäßig für die jugendlichen PatientInnen am TCE und die PatientInnen auf der Station des Klinikums Dritter Orden zuständig. Die Kunsttherapie sieht sie als Aktivierungsmöglichkeit kreativer Lebenskräfte sowie als Ausdrucksmöglichkeit bisher ungelebter Gefühle. Sie liebt es, unterwegs und aktiv zu sein, sich in Projekte zu stürzen und neue Seiten und Interessen an sich zu entdecken. Ihre konstanten Leidenschaften sind Filmfeste, Roadtrips, Meerschweinchen, Bücher, verlassene Häuser, Zeichnen …